Joseph Kuhn, Eberhard Göbel u.a. (Hrsg.): Leben, um zu arbeiten? Betriebliche Gesundheitsförderung unter biografischem Blickwinkel

Joseph Kuhn, Eberhard Göbel, Rolf Busch (Hrsg.): Leben, um zu arbeiten? Betriebliche Gesundheitsförderung unter biografischem Blickwinkel. Mabuse Verlag (Frankfurt am Main) 2005. 176 Seiten. ISBN 3-935964-87-0. 17,90 EUR, CH: 31,70 SFr.

Hintergrund und Zielsetzung

Die Arbeit hält drei schlimme Übel von uns fern: Langeweile, Laster und Not, so Voltaire. Nach Wilhelm von Humboldt ist das Arbeiten dem Menschen so gut ein Bedürfnis als Essen und Schlafen. Doch was passiert in unseren Zeiten, in denen man nur solange, wenn überhaupt, auf die Arbeit schimpft, bis man keine mehr hat (Sinclair Lewis) und die süße Frucht, die gemäß einem deutschen Sprichwort aus der bitteren Wurzel Arbeit entsteht, zunehmend ihre Süße verliert? Leben wir, um zu arbeiten oder arbeiten wir, um zu leben?

Das Auflösen von tradierten Gesellschaftsstrukturen und stets steigende Anforderungen an Flexibilität und Mobilität an diejenigen, die anspruchsvollen Tätigkeiten nachgehen wollen, evozieren zahlreiche Zielkonflikte. Nach Angaben der Herausgeber ist zur Lösung dieser Zielkonflikte die seit Ende der Neunziger Jahre aufkeimende Work-Life-Balance Diskussion nicht ausreichend, da sie sich einseitig auf betriebliche Angebote und nicht auf andere sozialpolitische Rahmenbedingungen und Faktoren konzentriert. Diese Faktoren wurden in der betrieblichen Gesundheitsförderung bisher eher stiefmütterlich behandelt, drehte sich doch alles vorwiegend um risikofaktorenbezogene Gesundheitsverhalten und gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen. Das vorliegende Buch setzt an diesem Schwachpunkt an und präsentiert die Beiträge eines Workshops, der gesundheitliche Aspekte der Lebensführung im beruflichen Kontext thematisiert. Zielsetzung ist, anhand von unterschiedlichen Arbeits- und Erwerbsbiografien den Zusammenhang zwischen Arbeit, Leben und Gesundheit fallweise darzustellen.

Autoren

Das Autorenteam setzt sich überwiegend aus Sozial- und Erziehungswissenschaftlern sowie aus Psychologen zusammen, was Analyse und Darstellung des Untersuchungskontextes methodisch kanalisiert.

Überblick

Das Buch besteht neben dem Vorwort aus zehn weiteren Kapiteln, in denen sehr unterschiedliche Themen behandelt werden. Ihnen allen gemeinsam ist weniger eine Handlungsanleitung zur biografieorientierten Gesundheitsförderung als die Erkenntnis, dass: „Arbeit […] ein Teil des Lebens und nicht umgekehrt […];“ ist (S. 11).

1 Konflikte im Berufs- und Privatleben: Reflexive Bewältigung und Lebensgestaltung

Schwerpunkt des ersten Kapitels bilden die Analyse und Darstellung der durch den Strukturwandel induzierten Anforderungen an die Berufstätigen sowie deren Interdependenzen mit Herausforderungen des privaten Lebens. In treffender Wiese wird das Spannungsfeld aus Flexibilität, Innovationsbereitschaft, individuelle Autonomie, Professionalität, Commitment mit Tätigkeit, Marktorientierung, Kundenorientierung, Selbstmanagement und Kooperation/Commitment mit dem Team beschrieben. Das Kapitel schließt mit einer Vorstellung von empirisch vorfindbaren Formen der Lebensgestaltung, die sich auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Berufs- und Privatleben beziehen. Die in den Schlussbemerkungen aufgeworfene These, dass mit zunehmender Flexibilität und Diskontinuität zugleich eine mangelnde Antizipierbarkeit und Planungsunsicherheit im Privatleben zunimmt, geht folgerichtig aus den Ausführungen hervor (S. 37). Auch die Annahme, dass eine erhöhte biographische Integrationsleistung bei Männern zu einer angestrebten Angleichung von beruflichen und privaten Zielen führt, ist theoretisch fundiert. Über eventuell vorhandene empirische Ergebnisse wird nichts berichtet.

2 Die Biografie als Gesundheitliche Kategorie

Aufbauend auf mehreren, gelungen aneinander gefügten Zitaten zum Zusammenhang zwischen Arbeit, Gesundheit sowie deren „leibzentrierten“ subjektiven Erfahrung wird das Wissen über das Wechselverhältnis von Arbeit, Leib und Biografie als unzureichend bezeichnet. Zur dessen Konzeption bedürfe es eines interdisziplinären Dialogs mit einem theoretischen Konstrukt, das als Scharnierfunktion zwischen den natur- und sozialwissenschaftlichen Fächern fungiert. Zielsetzung ist es, Hinweise für die Gestaltung von Arbeitswelten und für präventive und kurative Gesundheitsdienstleistungen zu generieren.

3 Das Subjektive in der Arbeit und die betriebliche Gesundheitsförderung

In diesem Kapitel werden der Hintergrund und die chronologische Reihenfolge von Projekten zur betrieblichen Gesundheitsförderung beschrieben. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung der systematischen Ökonomisierung von Teilbereichen der Arbeitswelt, die der Autor sprachlich in einem Balanceakt zwischen sachlich-neutral und bissig-satirisch dem Leser präsentiert. So beschreibt er exemplarisch eine Arbeitswelt, in der: „[…] Misstrauen als oberstes Gebot zwischenmenschlicher Beziehungen überlebensnotwendig wird;“ und wo man sich selbst möglichst wegrationalisieren soll, aber dennoch übrig bleiben muss (S. 61 f.). Eine gesundheitsförderliche Beratung solle: „[…] dem Wahnsinn der „Rund-um-die-Uhr-Ökonomie“ Paroli bieten, Selbststilisierung hinterfragen […] und grundlegende Sinnfragen zulassen.“ (S. 64).

4 Neue Selbständigkeit in der Arbeit und die Frage der Gesundheit

Im Fokus dieses Kapitels steht neben der prägnanten Aufarbeitung der Veränderungen in der Arbeitswelt die Präsentation von individuellen Erfahrungen mit diesen, die anhand von Textfragmenten präsentiert werden. Als grundlegende Veränderung wird die neue Selbständigkeit in der Arbeit identifiziert, die mit einem modifizierten Führungsverständnis einhergeht. Moderne Arbeitgeber agieren nicht mehr als traditionelle anweisende und kontrollierende Instanz, sondern als mit Zielen führende Instanz. Die Beschäftigten sollen in der Arbeit das tun, was sachgemäß ist. Dieser von vielen Organisations- und Managementwissenschaftler geforderte Führungsstil konfrontiert die Beschäftigten mit einer bisher unbekannten Selbständigkeit, zu deren Umgang besondere Fähigkeiten erworben werden müssen. Zum Schluss des Kapitels werden vier Aspekte angesprochen, die sich für die Arbeitnehmer unter den neuen Bedingungen völlig neu stellen und deren Beachtung dazu führen soll, besser mit der neuen Selbständigkeit in der Arbeitswelt umzugehen. Hierbei wird von einem positiven Zusammenhang zwischen der Beachtung der vier Aspekte und der Gesundheit von Seiten des Autors ausgegangen.

5 Arbeitsbiographien in der Automobilindustrie. Oder: Aus der schlechten Situation etwas Gutes machen

Der Frage nachgehend, welche grundlegenden Erwartungen Menschen an „gute Arbeit“ haben, werden in diesem Beitrag in wissenschaftlicher Form Ergebnisse aus einer Studie zur Gruppenarbeit in der Automobilindustrie vorgestellt. Hierzu wird zunächst nach der Fragestellung das empirische Sample beschrieben, um im weiteren Verlauf die Teilergebnisse systematisch zu präsentieren. Durch das Aufführen von direkten Zitaten ist der Beitrag äußerst lebendig verfasst. Als Hauptergebnis lässt sich festhalten, dass der Wunsch nach Kontinuität und Stabilität, die überwiegend im Automobilwerk gegeben sind, mit Bedürfnissen der Anerkennung, Weiterentwicklung und emotionalen Kontakten als gleichrangig bewertet werden. Die daraus gezogene Schlussfolgerung, dass das Personalmanagement zur Förderung der Humanressourcen neue Wege beschreiten muss ist eine gängige Forderung von Arbeitssoziologen und -ökonomen.

6 Arbeit, Gesundheit und Krankheit in biographischer Perspektive – Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt mit ehemaligen Arbeitern der Bremer Vulkan-Werft

Macht Arbeit wirklich krank und welche Auswirkungen hat eine Werksschließung mit Entlassung auf die ehemaligen Arbeiter und Angestellten? Konzis werden in diesem Kapitel Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt vorgestellt, welches der oben aufgeführten Fragestellung nachgegangen ist. Mit der Methode der Typisierung und des kontrastierten Fallvergleichs wurden 40 Interviewpartner befragt und deren Angaben mit der sequenziellen Analyse ausgewertet. Interessant in diesem Ergebniskontext ist der Ausweis von Häufigkeiten bestimmter Erkrankungsarten. Gesamt betrachtet kam es zu einer signifikanten Morbiditätszunahme nach der Werftschließung. Diese Ergebnisse sind mit anderen Forschungsergebnissen zu den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit kongruent. Der Artikel schließt mit Reflexionen zum Wesen und Ausgestaltung von qualitativer Sozialforschung.

7 Lebensphase Ausbildung: Ansatzpunkte für die Gesundheitsförderung

Dieser kurze Beitrag beschreibt vier Hauptfaktoren, die auf Jugendliche in der Ausbildung einwirken. Genannt werden neben der Entwertung des Berufbildes, Entwicklungsblockaden in der überbetrieblichen Ausbildung, Selbständigkeit als Einsamkeit sowie das Ausgeliefertsein an die Macht des Vorgesetzten. Auf einen detaillierten, kausalen Ausweis zwischen den einzelnen Faktoren und dem Gesundheitszustand wird verzichtet.

8 Wenn alles getan ist – der Übergang in den Ruhestand

Inhalt dieses Beitrags ist die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass man irgendwann aus dem Berufsleben ausscheidet und wie man diesen Schritt am besten absolviert. Der Leser erfährt wie mit Hilfe eines Seminars, bei dem sich die Teilnehmer rückblickend mit ihrer Arbeitsbiographie auseinandersetzen müssen, denjenigen, die mit dem Übergang in die nachberufliche Phase Probleme haben, geholfen werden konnte. Die Autoren sehen in diesem Seminar eine Art Präventionsmaßnahme, die auch an überbetrieblichen Institutionen (z.B. Volkshochschulen und Arbeitsämtern) angeboten werden sollte.

9 Arbeitslosigkeit: (k)ein Thema der betrieblichen Gesundheitsförderung?

Die wissenschaftlich-empirische Auseinandersetzung mit der Fragestellung, wie sich Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit auswirkt, ist sehr komplex. Hauptaugenmerk sollte dem Phänomen der umgekehrten Kausalitäten beigemessen werden. Führt Arbeitslosigkeit zu einer höheren Morbidität oder verursacht diese Arbeitslosigkeit? Die geforderten und ansatzweise schon in der Vergangenheit umgesetzten Projekte zur Verbesserung des Gesundheitszustands von Arbeitslosen sind unter sozialpolitischen Gesichtspunkten als wünschenswert anzusehen.

10 Gesundheit, Autonomie, Sinn – Anmerkungen zur Eignung von Lebenszielen als Handlungsorientierung in der betrieblichen Gesundheitsförderung

Der letzte Beitrag in diesem Buch setzt sich konkludierend mit der Theoriebildung in der betrieblichen Gesundheitsförderung, mit dem Stellenwert der Arbeit im Leben sowie mit der biografisch orientierten Gesundheitsförderung auseinander. Das sehr kompliziert geschriebene Kapitel erinnert an ein Abschlussplädoyer, das zum Nachdenken anregt.

Zielgruppen/ Nützlichkeit

Das Werk richtet sich vornehmlich an Mitarbeiter von Personalabteilungen, Arbeitssoziologen und Arbeitspsychologen. Darüber hinaus bietet es aktiven Arbeitnehmern und -gebern sowie Pensionären viele interessante Beiträge zum Thema Arbeit und Leben. Zur „existentialistischen“ Verwendung sollten auf jeden Fall andere klassische Werke von z.B. Sartre, Camus, Jaspers etc. herangezogen werden.

Fazit

Insgesamt stellt das Werk „Leben, um zu arbeiten“ einen gelungenen und lesenswerten Beitrag in seinem behandelten Themenbereich dar. Eine ausgewogene Kombination aus unterschiedlichen Inhalten ermöglicht einen schnellen interessenspezifischen Zugang zu Fragestellungen, mit denen sich bestimmt jeder im Verlauf seines Lebens auseinandersetzt. Einige Beiträge verweisen auf Interventionen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung, die unter sozialpolitischen Gesichtspunkten wünschenswert, allerdings nicht zu finanzieren sind. Der Einbezug von gesundheitsökonomischen Evaluationsstudien könnte an dieser Stelle eventuell einen Kosteneffektivitätsnachweis liefern. Was bleibt, ist eine gefestigte Erkenntnis, dass Selbstbestimmung und Freiheit auch im Berufsleben eine individuelle Herausforderung sind und, dass in Anlehnung an Sartre der Mensch nur das ist, was er aus sich macht. Die Arbeit bestimmt dabei einen großen Teil, auch wenn wir nicht nur leben, um zu arbeiten.


Rezensent
Dipl.-Wiwi. Christian Raible
Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen. Munich School of Management. LMU Ludwigs-Maximilians-Universität München 


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